FREYSCHMIDT - FRINGS - PANANIS - VENN
FREYSCHMIDT - FRINGS - PANANIS - VENN - Verteidiger in Strafsachen

Der persönliche Eindruck zählt - Zum rechtlichen Gehör im Vollstreckungsverfahren

10.02.2022

In Fällen einer rechtskräftigen Verurteilung zu einer möglicherweise auch auf mehrere Jahre lautenden Freiheitsstrafe gilt es, den Belangen des Betroffenen auch im Rahmen der örtlichen sowie inhaltlichen Ausgestaltung der Haftsituation Rechnung zu tragen. In diesem Zusammenhang sind die mannigfaltigen Bedürfnisse des Inhaftierten zu berücksichtigen und gegebenenfalls gegenüber den Staatsanwaltschaften als zuständige Vollstreckungsorgane sowie den Strafvollstreckungskammern der Landgerichte vorzubringen bzw. im aktiven Kontakt mit den jeweiligen Haftanstalten zu kommunizieren.

Eines der maßgeblichen Ziele eines jeden Inhaftierten wird es diesem Zusammenhang regelmäßig sein, etwaige Vollzugslockerungen bis hin zur Aussetzung der Restfreiheitsstrafe zur Bewährung zu erreichen. Die Entscheidung über eine solche Aussetzung richtet sich nach § 454 StPO und ist vom Gericht ohne mündliche Verhandlung zu treffen. Allerdings – und hier liegt die Krux – setzt die Entscheidung nach § 454 Abs. 1 S. 2 StPO voraus, die Staatsanwaltschaft, den Verurteilten sowie die Vollzugsanstalt zu hören.

Doch: Anhörung ohne mündliche Verhandlung?

Die Besonderheit besteht darin, dass § 454 Abs. 1 S. 2 StPO weder die gemeinsame, d.h. gleichzeitige, Anhörung der Beteiligten vorschreibt, noch deren Form. Einzige Ausnahme gilt hinsichtlich des Verurteilten: Nach § 454 Abs. 1 S. 3 StPO ist er zwingend mündlich zu hören. Erforderlichenfalls auch unter Hinzuziehung eines Dolmetschers (KG, Beschluss vom 24. März 2020 - 2 Ws 11/20).

Die herausragende Bedeutung der mündlichen Anhörung des Verurteilten hat das Kammergericht in seiner Entscheidung vom 29. Dezember 2021 (161 AR 266/21) noch einmal deutlich hervorgehoben. Denn Zweck dieser mündlichen Anhörung ist zum einen, dass sich das befasste Gericht durch einen persönlichen Eindruck des Verurteilten eine zuverlässige Entscheidungsgrundlage verschafft. Die mündliche Anhörung dient darüber hinaus dem Schutz des Verurteilten, dem die Möglichkeit einzuräumen ist, sich zu den Stellungnahmen der ebenfalls zu hörenden Staatsanwaltschaften und Justizvollzugsanstalten äußern zu können, d.h. deren Inhalt vor seiner Anhörung zur Kenntnis nehmen zu können:

„Der Zweck der gemäß § 454 Abs. 1 Satz 3 StPO zwingend erforderlichen Anhörung des Verurteilten liegt zum einen in der Gewährung rechtlichen Gehörs, zum anderen darin, den Sachverhalt zu ermitteln und sich durch einen unmittelbaren und aktuellen persönlichen Eindruck von dem Verurteilten eine zuverlässige Entscheidungsgrundlage zu verschaffen […]. Daher müssen spätestens im Zeitpunkt der mündlichen Anhörung dem Verurteilten die Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt und der Staatsanwaltschaft bekannt sein oder bekannt gemacht werden, insbesondere soweit darin belastende Umstände, die entscheidungserheblich sind, enthalten sind“

(KG, Beschluss vom 29. Dezember 2021 - 161 AR 266/21).

Erfolgt die Anhörung des Verurteilten trotz seiner Unkenntnis der Stellungnahmen von Justizvollzugsanstalt und/oder Staatsanwaltschaft, stellt dies eine Verletzung des rechtlichen Gehörs dar. Dieser Verfahrensmangel kann auch nicht in einem sich anschließenden Beschwerdeverfahren geheilt werden, sodass eine zum Nachteil des Verurteilten ergangene Entscheidung aufzuheben ist.

Klarzustellen ist außerdem: Auch wenn das Anwesenheitsrecht des Verteidigers aus § 168c Abs. 1 StPO für die Anhörung mangels Vernehmungscharakters keine Anwendung findet, ergibt sich dieses – wie das BVerfG bereits 1993 festhielt – aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens (BVerfG, Beschluss vom 11. Februar 1993 - 2 BvR 710/91). Die Hinzuziehung eines Anwalts sollte daher auch nach rechtskräftigem Abschluss des Strafverfahrens nicht aus den Augen verloren werden.

Rechtsanwältin Celina Serbest